Deutscher Gewerkschaftsbund

TVStud: Jetzt oder nie! Marvin Hopp im Interview

Studentische Beschäftigte in ganz Deutschland organisieren sich und wollen einen Tarifvertrag. Soli aktuell sprach mit Marvin Hopp über den aktuellen Stand der Bewegung.

Marvin Hopp

Engagement für die Studierenden: Marvin Hopp studiert Arbeit in Betrieb und Gesellschaft an der Georg-August-Universität Göttingen im Master. Aktuell arbeitet er im von ver.di und GEW finanzierten Forschungsprojekt "Jung, akademisch, prekär? Zur Situation und Lage von studentischen Beschäftigten an Hochschulen in Deutschland". Während seines Studiums in Hamburg hat er die TVStud-Initiative mit aufgebaut und ist dort Mitglied der Tarifkommission von ver.di und GEW.

Hopp hat eine Ausbildung als Zerspanungsmechaniker bei VW absolviert und war dort Mitglied der Jugend- und Auszubildendenvertretung, in der IG Metall-Vertrauenskörperleitung sowie der VW-Tarifkommission. Er engagiert sich weiterhin in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit der IG Metall. Er forscht, schreibt und organisiert (wissenschaftliche) Tagungen und Konferenzen zu Fragen gewerkschaftlicher Erneuerung.

Marvin, seit über 30 Jahren warten studentische Beschäftigte außerhalb von Berlin auf einen Tarifvertrag. Ihr hattet nach Göttingen zur Aktionskonferenz gerufen, um ein Streikjahr einzuläuten. Wie war das Echo?
Als wir mit der Planung angefangen haben, hatten wir uns das Ziel gesetzt, über 100 TVStud-Aktive zu der Organizing-Konferenz zu mobilisieren. Dass wir dann rund 250 Leute wurden, hat bei uns für viel Begeisterung gesorgt und allen nochmal einen zusätzlichen Motivationsschub gegeben. Die Stimmung in der Bewegung ist von Zuversicht geprägt, dieses Jahr endlich den Tarifvertrag für studentische bzw. wissenschaftliche Hilfskräfte und Tutor*innen durchzusetzen.

Wo drückt der Schuh die jungen Beschäftigten denn am schlimmsten?
Neben dem Fehlen eines Tarifvertrags sind studentische Beschäftigte in vielen Bundesländern mittelbar, in Hessen und dem Saarland sogar unmittelbar von der gesetzlichen Mitbestimmung durch Personalräte ausgeschlossen – und das im öffentlichen Dienst! Erschwerend hinzu kommt, dass mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) ein Sonderbefristungsrecht geschaffen wurde, das den Hochschulen und Forschungseinrichtungen innerhalb eines Zeitraums von sechs Jahren ermöglicht, beliebig viele und in der Laufzeit kurze (Anschluss-)Verträge mit Studierenden zu schließen – maximale Flexibilität zu Lasten der Studierenden.

Ihr habt Daten erhoben…
Dank unserer Studie "Jung, akademisch, prekär", bei der wir über 11.000 studentische Beschäftigte befragt haben, können wir ziemlich genau darlegen, welche Konsequenzen diese Rahmenbedingungen haben: Die Vertragslaufzeit beläuft sich im Mittel auf knapp sechs Monate. Studentische Beschäftigte arbeiten jedoch über 20 Monate als Hilfskräfte/Tutor*innen und schließen dabei 4,6 Arbeitsverträge. Kettenbefristungen sind somit an der Tagesordnung. All dies wirkt sich negativ auf die Einhaltung grundlegender Arbeitnehmerrechte wie den Anspruch auf Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder gar das Grundprinzip Lohn für Arbeitsleistung aus. Der Staat nutzt hier seine Doppelrolle als Arbeit- und Gesetzgeber aus, um sich zu Sonderkonditionen einen exklusiven Zugriff auf die Arbeitskraft von Studierenden zu verschaffen.

Studie Jung - Akademisch - Prekär im Hörsaal

© TVStud/Kay Herschelmann

In Göttingen vorgestellt: Die Studie "Jung, akademisch, prekär" liefert Datenmaterial für die Aktionen. Infos und Download: hier.

Du warst selbst studentische Hilfskraft, wie hast du diese Zeit erlebt?
Ich habe während meines Bachelorstudiums in der Sozialökonomie als Tutor gearbeitet und später als Hilfskraft in der Wirtschaftssoziologie der Uni Hamburg. Ich studiere auf dem dritten Bildungsweg, vorher habe ich neun Jahre bei VW in Braunschweig gearbeitet. Ich habe bereits in meiner Ausbildung gelernt, welchen Wert Tarifvertrag und gesetzliche Mitbestimmung haben und wie groß die Macht einer gewerkschaftlich gut organisierten Belegschaft sein kann. Umso deutlicher ist mir das Fehlen dieser Instanzen an der Hochschule aufgefallen.

Ich glaube, viele studentische Beschäftigte nehmen diese Missstände nicht wahr, weil es sich bei der Arbeit als Hilfskraft oder Tutor*in oftmals um ihre ersten Berufserfahrungen handelt. Die Prekarität wird daher von vielen als normal empfunden. Erschwerend kommt hinzu, dass viele von ihnen aus akademischem Haushalten kommen, wo ein positiver Bezug zu Gewerkschaften oder gar die Erfahrung von Streiks leider – noch – nicht weitverbreitet ist. Umso schöner, dass sich das nun langsam ändert.

Euer Vorbild ist der Streik 2018 in Berlin, mit dem dort der Tarifvertrag TVStud III erkämpft werden konnte. Inwiefern kann das Berliner Modell im Bund ein Vorbild sein und wo gibt es Unterschiede?
Berlin hat gezeigt, dass studentische Beschäftigte gewinnen können. Erfolgreich haben die Kolleg*innen über 1.000 Menschen gewerkschaftlich neu organisiert und in der Spitze 1.500 auf die Straße mobilisiert. Gleichzeitig können wir die in Berlin gewonnenen Erfahrungen nicht eins zu eins übertragen. Der Arbeitskampf 2018 konnte auf dem seit den 1980er Jahren bestehenden Tarifvertrag und Mindestvertragslaufzeiten von 24 Monaten aufbauen. Zudem verfügt Berlin als einziges Bundesland über eigene studentische Personalräte, die die Möglichkeiten haben, Gegenöffentlichkeiten herzustellen. Das Fehlen dieser wichtigen institutionellen Machtressourcen – und die Prekarität, die damit verbunden ist – erschwert in den anderen Bundesländern die gewerkschaftliche Selbstorganisierung. Wir müssen eigene Wege entwickeln.

Dass es so schwer ist, Verbesserungen durchzusetzen, hängt auch mit dem Selbstverständnis der Studierenden zusammen…
Wenn ich nicht weiß, ob ich in drei oder vier Monaten noch an Ort und Stelle arbeite, greife ich eher zur "Augen zu und durch"-Strategie, als dass ich die Hoffnung entwickle, durch kollektiven Widerstand etwas an meinen Arbeitsbedingungen verbessern zu können. Vielen wird erst nach der zweiten oder dritten Vertragsverlängerung bewusst, dass es sich bei ihrer Arbeit um eine längere Angelegenheit handelt und sie sich mit einem Lohn auf Mindestlohnniveau deutlich unter Wert verkaufen.

Hinzu kommt, dass – entgegen der Situation anderer prekär Beschäftigter – die Aussicht auf bessere Arbeitsbedingungen im Anschluss an das Studium existiert, sprich: Die Tätigkeit wird als Durchgangsphase begriffen. Und ganz nebenbei müssen die studentischen Beschäftigten neben ihrer Arbeit von acht bis zehn Stunden die Woche ja auch noch ein Vollzeitstudium wuppen.

Will man also die Rahmenbedingungen für gewerkschaftliche Selbstorganisierung verbessern, muss man an die Vertragslaufzeiten ran und mit studentischen Personalräten Möglichkeiten für die demokratische Einflussnahme schaffen. So können wir langfristig die Bedingungen für den Aufbau von Organisationsmacht verbessern.

Demo

© TVStud/Kay Herschelmann

Die TVStud-Initiative rief dieses Jahr nach Göttingen zur Aktionskonferenz – und 250 Menschen kamen. Weitere Infos: https://tvstud.de

Was sind die nächsten Schritte?
Aus dem Jahr 2021 wissen wir, dass unsere Organizing-Aktivitäten im Sommersemester vor der Tarifrunde darüber entscheiden, wie viele Menschen wir im Wintersemester in den Arbeitskampf mobilisiert bekommen. Wo wir im Vorfeld systematisch Strukturaufbau betrieben haben, hatten wir die größte Streikbeteiligung. Aus dieser Erfahrung haben wir gelernt. Mit unserer Konferenz lagen wir sieben Monate vor der Tarifrunde – und das aus gutem Grund: Wir wollen einheitlich vorgehen und bundesweit das Sommersemester zum gemeinsamen Organizing-Semester machen. Mit einem einheitlichen Gesprächsbogen führen wir jetzt in allen Bundesländern systematisch Eins-zu-eins-Gespräche und gewinnen Kolleg*innen für unsere Gewerkschaften.

Den Rücklauf tragen wir lokal zusammen und berichten uns gegenseitig. Nur wenn es uns in den nächsten Monaten gelingt, unsere Kol leg*innen in die Tarifbewegung einzubinden, versetzen wir sie überhaupt in die Lage, eine Entscheidung treffen zu können, ob sie ihre Arbeits- und Lebensbedingungen mit uns gemeinsam verbessern wollen. Das ist mühselige Kleinstarbeit, da wir überhaupt erst so etwas wie eine Art betriebliche Gegenöffentlichkeit herstellen müssen. Das zahlt sich am Ende aber für uns alle aus.

Wie schätzt du die Chancen auf gute Regelungen ein?
Bisher gab es zwei Gespräche, ein letztes wird noch kurz vor der Tarifrunde stattfinden. Diese Treffen sind das Ergebnis unserer Streikaktivitäten 2021, die am Ende dazu geführt haben, dass zwischen den Tarifparteien zumindest eine Bestandsaufnahme über die Arbeitsbedingungen studentischer Beschäftigter vereinbart wurde – hoffentlich eine Art Zwischenschritt zum Tarifvertrag! Mit unserer Studie haben wir im Vorfeld wesentliche Vorarbeit geleistet und den studentischen Beschäftigten die Deutungshoheit über ihre Arbeitsbedingungen ermöglicht. Auch im Arbeitgeberlager hat das für viel Eindruck gesorgt.

Wie empfindest du denn das Gesprächsklima?
Grundsätzlich nehme ich die Gespräche bisher als konstruktiv war. Die über 30 Jahre anhaltende Blockadehaltung hat deutliche Risse bekommen. Diese Entwicklung ist klar auf unseren kontinuierlichen Druck zurückzuführen, der dazu geführt hat, dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen studentischer Beschäftigter es inzwischen in neun Bundesländern in die Regierungsprogramme geschafft hat. Da in Berlin bereits ein Tarifvertrag existiert, steht es in Sachen TVStud somit zehn zu sechs zwischen den Bundesländern.

Angesichts dessen ist "Jetzt oder nie!" mehr als das Motto der Konferenz. Wer aber glaubt, dass uns damit ein Tarifvertrag, und am besten auch noch ein guter, einfach so geschenkt wird, der täuscht sich leider gewaltig.

Warum?
Viel zu oft haben wir schon erlebt, dass politische Versprechen nach Wahlen nichts mehr zählen und plötzlich angebliche Sachzwänge die Verbesserung von Arbeitsbedingungen unmöglich machen. Wenn wir im Oktober gewinnen und damit gemeinsam Geschichte schreiben wollen, dann müssen wir uns und andere jetzt organisieren und den Arbeitgebern im Rahmen der Tarifrunde ab Oktober gemeinsam die Hölle heiß machen. Nur durch Organisierung und Druck bleiben wir weiterhin auf der Siegerstraße – und erkämpfen die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von über 300.000 studentischen Beschäftigten.

(Aus der Soli aktuell 6/2023, Autorin: Soli aktuell)