Deutscher Gewerkschaftsbund

1 Kleine Geschichte des zivilen Ungehorsams

...Oder warum Gewerkschaften heute unbedeutend wären, wenn sie nicht die ein oder andere Regel gebrochen hätten.

Streikende

© Robert Koehler

Frühe Anfänge

Als im England des späten 17. Jahrhunderts die Industrialisierung einsetzte, fühlten sich vor allem Handspinner/-innen und Handweber/-innen vom Maschinenzeitalter bedroht. Spinnmaschinen und später auch mechanische Webstühle traten in Konkurrenz zur Handarbeit.

Die Gesellen und Handwerker konnten politische Rahmenbedingungen nicht beeinflussen – Appelle an das Parlament brachten ihnen nichts. So setzte ein "Maschinensturm" ein. Es gründete sich so etwas wie eine frühe Gewerkschaft: Die "Ludditen" zerstörten in den Jahren 1811 und 1812 Spinnereien in ganz England – eine der ersten organisierten Aktionen der Arbeiterbewegung.

Die Politik reagierte mit der Einführung der Todesstrafe für Maschinenzerstörungen. Gewerkschaften blieben verboten, nicht nur in England, sondern auch in Frankreich. Den Arbeitern blieb, wenn sie ihre Lebensbedingungen verbessern wollten, also nur "bargaining by riot" – Tarifverhandlungen durch Aufruhr (Eric Hobsbawm).

In Schlesien fand 1844 der Weberaufstand statt – eine Reaktion auf Hunger und Armut, sinkende Löhne und immer längere Arbeitszeiten. Drei Tage dauerte der Aufstand, bis zu 3000 Menschen gingen auf die Straße.  Als Präsenz und Protest nichts bewirkten, zerstörten sie Häuser und Maschinen der Fabrikbesitzer. Das preußische Militär schlug die Revolte schließlich nieder, ein allgemeines Streikverbot wurde verhängt.

Nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848/1849 begann in Deutschland eine Zeit der Reaktion. In den 1850er Jahren wurden politische Arbeitervereine verboten. Doch trotz der Verbote lebten die Ideen der Arbeiterbewegung weiter. Einige der frühen Gewerkschaften existierten im Untergrund weiter, und es kam trotz aller Unterdrückung zu Streikwellen. Die Arbeiterbewegung rückte in dieser Zeit näher zusammen – und ging aus der Zeit der Verbote sogar gestärkt hervor. Schließlich waren ja auch die sozialen und wirtschaftlichen Probleme immer noch vorhanden und spitzten sich mit der voranschreitenden Industrialisierung weiter zu.

Arbeiterbewegung im Untergrund

In die Zeit des Reichskanzlers Bismarck fällt das Sozialistengesetz. Die Eliten, das Bürgertum und der Adel hatten Angst vor der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. Bismarck hielt das Erstarken einer Arbeiterpartei für unausweichlich und sah darin zugleich eine große Gefahr für den Staat. 

"'Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will' – ein alter Spruch – aktueller denn je. Die stillen Räder sind nichts anderes als Blockaden im zivilen Ungehorsam. Sie sind unser Recht und unsere Macht, um Missstände in Deutschland anzuprangern."
Marco Rafolt, Bundesjugendsekretär der EVG

"Für Nazis gibt's nur einen Platz, den in Geschichtsbüchern!"
Florian Schmidt, Bundesausschuss der GEW

Der "Gefahr" durch Revolution, Umsturz und Internationalismus begegnete er einerseits mit der strafrechtlichen Verfolgung, andererseits mit Sozialreformen "von oben". Von 1878 bis 1890 galt das Sozialistengesetz, das zum Verbot zahlreicher Druckwerke und Organisationen führte sowie zur Inhaftierung und Verfolgung tausender Menschen.

Bis 1890 mussten sich die Aktiven in der Illegalität bewegen: "Durch die Verfolgungen aufs äußerste erbittert, zogen [die aus Berlin ausgewiesenen Sozialdemokraten] von Stadt zu Stadt, suchten überall die Parteigenossen auf, die sie mit offenen Armen aufnahmen, und übertrugen ihren Zorn und ihre Erbitterung auf ihre Gastgeber, die sie zum Zusammenschluss und zum Handeln anfeuerten. Dadurch wurde eine Menge örtlicher geheimer Verbindungen geschaffen, die ohne die Agitation der Ausgewiesenen kaum entstanden wären" (August Bebel).

Acht-Stunden-Tag

Trotz aller Verbote: 1889 fand im Ruhrbergbau der erste Massenstreik statt. Ausgehend von Bochum und Essen traten schließlich rund 90 Prozent der Bergarbeiter/-innen an der Ruhr in den Ausstand – der Acht-Stunden-Tag wurde erkämpft, das Sozialistengesetz fiel. Zu wichtig war die Energieversorgung geworden: "[Das] ganze Kaiserreich", schrieb Friedrich Engels, "zitterte vor diesen streikenden Arbeitern. [Alles] wurde versucht, um die Zechenbesitzer zu bewegen, Konzessionen zu machen. Der Kaiser selbst riet ihnen, ihre Taschen zu öffnen […]".

Viele weitere Beispiele des zivilen Ungehorsams der Arbeiterbewegung ließen sich finden. So der Generalstreik von zwölf Millionen Beschäftigten im Jahr 1920, der den völkisch-nationalen Kapp-Putsch abwenden konnte. Oder der Widerstand der Verfolgten während des "Dritten Reichs".

Lohnfortzahlung im Krankheitsfall

Auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fiel nicht vom Himmel: 16 Wochen streikten die Mitglieder der IG Metall im Winter 1956/57, um vernünftige Regelungen für Arbeiter/-innen zu erzielen. Ein bisschen mehr im Jetzt und Heute spielt der Kampf der Duisburger Krupp-Beschäftigten. Das Hüttenwerk Rheinhausen sollte geschlossen werden. 1987 war den Stahlarbeitern, ihren Familien und Unterstützer/-innen angesichts der drohenden Arbeitslosigkeit herzlich egal, ob sie gegen die ein oder andere Strafvorschrift verstießen.

Definition
Ziviler Ungehorsam ist der bewusste, aus Gewissensgründen vollzogene Verstoss gegen rechtliche Normen zur Beseitigung einer Unrechtssituation. In Anlehnung an die Erfahrungen aus den sozialen Kämpfen der Arbeiter/-innenbewegung bedeutet ziviler Ungehorsam für die Gewerkschaftsjugend: "Die bewusste Überschreitung von Normen zur Verhinderung oder Beseitigung von Unrechtssituationen in betrieblichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen."

Der zivile Ungehorsam ist folglich eine Form von politischer Teilhabe. Die Aktionen des zivilen Ungehorsams zeichnen sich dadurch aus, dass sie immer moralisch motiviert sind und öffentlich stattfinden. Damit soll zum einen die Öffentlichkeit auf eine Ungerechtigkeit hingewiesen werden, und zum anderen soll durch die öffentliche Einflussnahme auf die politische Meinungsbildung auf eine Verbesserung der Situation hingewirkt werden. Diejenigen, die zivilen Ungehorsam ausüben, nehmen aus moralischen Gründen bewusst eine Strafe für den Regelverstoß (gegen Gesetze, Verordnungen, Anweisungen oder Normen) in Kauf. Deswegen spricht man auch von einem Spannungsfeld zwischen Legitimität und Legalität.

Sie besetzten eine Rheinbrücke (die heute auch offiziell "Brücke der Solidarität" heißt. Sie besetzten die Autobahn A40. Sie enterten die Krupp-Konzernzentrale in Essen. Dabei dürften sie gegen ein gutes Dutzend Vorschriften verstoßen haben, vom gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr über Verstöße gegen das Versammlungsgesetz bis hin zum Hausfriedensbruch.

Diese Beispiele zeigen: Politische Ideen und der Widerstand gegen Unrecht und Missstände lassen sich nicht einfach verbieten, sondern höchstens behindern und aufhalten. Das geltende Recht, die Rechtsauffassung der Vollzugsorgane und die Rechtsprechung durch die Gerichte – all das ändert sich je nach den gesellschaftlichen Zuständen.

Und manchmal muss man auch mutig sein, gelegentlich rechtliche Grenzen streifen oder sie auch übertreten, um die eigenen Handlungsspielräume zu erweitern. Ohne den Mut vieler Kolleginnen und Kollegen im 19. und 20. Jahrhundert zum zivilen Ungehorsam gäbe es heute wohl keinen Acht-Stunden-Tag, kein Recht auf Zusammenschluss in Gewerkschaften (die Koalitionsfreiheit), kein Recht auf Arbeitskämpfe, kein allgemeines und freies Wahlrecht, keine Meinungs- und Versammlungsfreiheit, keine Pressefreiheit.

Und: Die Geschichte endet hier natürlich nicht.

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