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Begrenzte sich der zivile Ungehorsam lange Zeit auf lediglich symbolische Handlungen wie Mahnwachen und Boykotte (zum Beispiel der Volkszählung), kann hiervon im Rahmen von Anti-Nazi-Protesten oder Aktionen gegen Castor-Transporte nicht mehr gesprochen werden. Obwohl die gemeinschaftliche Regelübertretung als legitimes, aber nicht immer legales Mittel bewusst gewählt wird, sehen sich immer mehr Aktivist/-innen einer staatlichen Verfolgung ihres Handelns ausgesetzt.
Die strafrechtlichen Tatbestände, die Polizei und Staatsanwaltschaften in der Ausübung des zivilen Ungehorsams sehen, sind so vielfältig wie die Aktionen des Ungehorsams selbst.
"Ich finde es wichtig, für 'Dresden nazifrei!' zu werben, da wir (Belegschaft, Interessenvertretung und auch der Vorstand) uns entschieden gegen jede Form von Diskriminierung und Rechtsextremismus stellen! […] Wir üben zivilen Ungehorsam aus, indem wir als Belegschaft durch betriebliche und öffentlichkeitswirksame Aktionen auf Missstände aufmerksam machen und dadurch unsere Meinung gegenüber den Arbeitgebern durchsetzen."
Christian Tissen, stellv. Vorsitzender der Jugend- und Auszubildendenvertretung bei ThyssenKrupp in Duisburg
"Den Naziaufmarsch in Dresden auch durch Sitzblockaden zu verhindern ist gelebte Zivilcourage gegen rechte Ideologie und positives Zeichen einer demokratischen Kultur."
Gerd-Joachim Langecker, Bundesjugendsekretär der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten
Aufrufe zum zivilen Ungehorsam werden durch staatliche Behörden als Aufruf zu Straftaten (§ 111 Strafgesetzbuch, StGB) eingestuft. Konkret bezieht sich dies auf Handlungen, die eine Straftat wie Nötigung (§ 240 StGB), Störung einer Versammlung (§ 21 Versammlungsgesetz), Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB), Eingriff in den Schienen- oder Straßenverkehr (§§ 315, 315b StGB) oder Landfriedensbruch (§ 125 StGB) darstellen können.
Abgesehen von dieser formaljuristischen Bewertung der einzelnen Handlung im Rahmen der Ausübung zivilen Ungehorsams handelt es sich jedoch zumeist um eine Meinungsäußerung und Aktion, die in der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Gemengelage auf breite Unterstützung trifft: unzählige Menschen, die Aufrufe zur Blockade eines Neonazi-Aufmarschs unterzeichnen, z. B. in Dresden, oder Aktionen gegen die jährlichen Castor-Transporte ins Wendland unterstützen.
Die Motivation, die sich in der Aktion des zivilen Ungehorsams ausdrückt, und die Akzeptanz des Anliegens in der Gesellschaft haben Auswirkungen auf die Bewertung durch die staatlichen Stellen. Vermehrt verzichten Staatsanwaltschaften darauf, Aufrufe und Akteure zu verfolgen. Sie nutzen hierbei die Entscheidungsspielräume der Strafprozessordnung, wenn ihnen die Anliegen der Aktivist/-innen legitim und gesellschaftlich getragen erscheinen. Wenn einmal ein Strafverfahren eingeleitet wird, so kommt es meist zu einer Einstellung noch im Ermittlungsverfahren. Begründet wird dies damit, dass "die Schuld des Täters als gering anzusehen" sei und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestehe.
Außerdem kann ziviler Ungehorsam aber auch immer dazu dienen, die eigenen Grundrechte auszuüben. So urteilte beispielsweise das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 2011, dass es nur in den seltensten Fällen eine reine Verhinderungsblockade gebe, da mit der Verhinderung eines Aufmarsches von Neonazis oder der Blockade eines Atomtransportes ein darüberhinausgehender Zweck, nämlich die Kundgabe der eigenen Meinung in der Öffentlichkeit, verfolgt wird. Damit genießt auch eine solche Versammlung bzw. Aktion Grundrechtsschutz.
Dass diese Rechtsprechung des höchsten Gerichts aber nicht immer von den Ermittlungsbehörden beachtet wird, zeigt die umfassende Verfolgung antifaschistischen Engagements gegen die jährlichen Nazi-Aufmärsche im Februar in Dresden.
Nachdem der Naziaufmarsch in Dresden 2011 ein zweites Mal durch Blockaden von mehr als 20.000 Menschen verhindert worden war, begann die zuständige Staatsanwaltschaft mit der massenhaften Einleitung von Ermittlungsverfahren. Die dazugehörigen Maßnahmen reichen in diesem Zusammenhang von Hausdurchsuchungen über Funkzellenabfragen und bis hin zu Anklagen. Die damit einhergehenden Grundrechtsverletzungen etlicher Menschen, die von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht haben, werden dabei bewusst eingegangen. Derzeit gibt es noch keine gerichtliche Bewertung dazu. Aber: Was strafbar ist und was nicht, entscheiden in diesem Staat Gerichte, nicht Polizei und Staatsanwaltschaft.
Aktuelles Beispiel
Dresden ist derzeit Kristallisationspunkt in der rechtlichen Auseinandersetzungen zum zivilen Ungehorsam in Form von Sitzblockaden. Werden Sitzblockaden in weiten Teilen Deutschlands überhaupt nicht strafrechtlich verfolgt oder höchstens als Ordnungswidrigkeit (vergleichbar sind Falschparken oder Ruhestörung) behandelt, stuft die Polizeidirektion Dresden diese mit Duldung der zuständigen Staatsanwaltschaft als Akt "mittelschwerer Kriminalität" ein.
Klassischerweise zählt man darunter aber Delikte wie Körperverletzung oder Diebstahl. Die Dresdner Staatsanwaltschaft sieht in den Blockaden des Naziaufmarsch 2011 einen Verstoß gegen § 21 des Versammlungsgesetzes in Form der Verhinderung einer angemeldeten und genehmigten Versammlung (nämlich der Versammlung der Neonazis); das Durchfließen der Polizeiketten sogar als einen Fall des Landfriedensbruchs.
Dass diese Vorwürfe auf tönernen Füßen stehen und eher einen politischen Akt des Versuchs darstellen, die Mobilisierung zu behindern, zeigen die wenigen bislang geführten Prozesse. Eine Gewalttätigkeit konnte den Aktionen nicht nachgewiesen werden. Ohne sich mit der juristischen Problematik des nichtigen sächsischen Versammlungsgesetzes in der notwendigen Form auseinanderzusetzen, verurteilte das Amtsgericht Dresden unlängst einen Blockierer zu einer Geldstrafe in Höhe von 300 Euro. Dabei ging der Richter über die Forderung der Staatsanwaltschaft, die eine Verwarnung für ausreichend erachtete, hinaus: Die aufmarschierenden Neonazis stellten eine schützenswerte Minderheit dar. – Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig. Es wurde Berufung eingelegt.