Der Rückblick auf die Geschichte hat bereits gezeigt, dass Aktionen des zivilen Ungehorsams von Beginn an eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der Gewerkschaften gespielt haben. Doch wie ist die Situation heute? Es gibt ein anerkanntes Streikrecht, und Gewerkschaften sind in der Regel anerkannte Verhandlungspartnerinnen für Staat und Wirtschaft. Ist nun also alles gut, und können sich Arbeiter/-innen, Angestellte und Gewerkschafter/-innen entspannt zurücklehnen?
© ver.di Jugend
Flashmob auf dem Alexanderplatz: Aktion der ver.di Jugend
Ein Blick auf die Entwicklung in vielen Betrieben zeigt, dass dem nicht so ist. Zwar gibt es mittlerweile verrechtlichte Formen von Arbeitskämpfen, Traditionen und Gewohnheiten. Durch Deregulierungen der Arbeitsverhältnisse wie z. B. die Ausweitung von Befristungen, zunehmend Teilzeit- statt Vollzeitverträge, Arbeitszwang auch unter Niedriglohnbedingungen durch Hartz IV oder Tarifflucht durch Auslagerung von Betriebsteilen hat sich die Machtbalance in den letzten Jahren immer stärker zu Ungunsten der lohnabhängig Beschäftigten verschoben.
Eine Ausweitung der gewerkschaftlichen Aktionsformen ist deshalb dringend notwendig. Dafür entwickeln und erproben die Gewerkschaften verschiedene Organizing-Modelle für betriebliche Handlungskonzepte.
Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Aktion sind aktive Kolleginnen und Kollegen im Betrieb und eine starke und gute innerbetriebliche Kommunikation. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen werden Aktionsformen entwickelt, die eine breite Beteiligung ermöglichen und dem Eskalationsniveau und der Auseinandersetzungsbereitschaft im Betrieb entsprechen. Denn ohne Aktive im Betrieb kann es auch keine Aktion geben. Die Bandbreite möglicher Aktionen ist enorm groß. Ob Flugblatt- oder Aufkleber-Aktionen, um Druck auf die Geschäftsleitung aufzubauen und unbeteiligte Menschen auf das Thema hinzuweisen, oder Delegationen zu Entscheidungsträgern/-innen mit medialer Begleitung.
Ob gemeinsame Blockaden von Streikenden und Kund/-innen eines bestreikten Supermarktes oder Unterstützungsrundfahrten von Gewerkschafter/-innen und Kolleginnen und Kollegen verschiedener Branchen, die die Angestellten von Betrieben mit Flashmobs und Infoständen unterstützen. Wesentliches Element ist die öffentliche Skandalisierung der Arbeitsbedingungen mit direkten Aktionen (Wie dies ganz praktisch aussehen kann, zeigen die jungeNGG...
...und Hotelangestellte in San Francisco:
Eine weitere Ausweitung erfolgt dann durch die Einbeziehung der Öffentlichkeit und von Kunden/-innen. Hier gilt es, die Interessen der Lohnabhängigen klar mit den Interessen der Kund/-innen zu verbinden, diesen die Möglichkeit zu geben, sich aktiv zu solidarisieren. Der Schritt in die Öffentlichkeit erfordert oftmals Mut der Aktiven im Betrieb und stellt auch für Gewerkschafter/-innen oftmals Neuland dar.
Aber: Alleine und nur innerbetrieblich kann heute kaum eine Beschäftigtengruppe ihre Interessen durchsetzen und gegen die scheinbar übermächtigen Konzern- oder Geschäftsleitungen ausreichend Macht aufbauen. Bei einer Ausweitung des gewerkschaftlichen Handlungsrepertoires geht es nicht um die bewusste Gesetzesüberschreitung, sondern um die Ausweitung der gewerkschaftlichen Handlungsoptionen.
Neue Aktionsformen werden meist von der Arbeitgeberseite schnell auf eine juristische Ebene gezogen, siehe Flashmobs im Einzelhandel. Immer, wenn Aktionsformen erfolgversprechend zu sein scheinen, kommt erst einmal eine einstweilige Verfügung. Oder: Einschüchterungen durch die Flughafenbetreiber – sie drohen Gewerkschaftssekretären/-innen mit dem Entzug der Sicherheitsausweise bei Arbeitskämpfen.
"Gesetze fallen nicht vom Himmel, sie werden erstritten. Missstände und Ungerechtigkeiten anzuprangern ist unser Recht, das wir uns auch nicht nehmen lassen. Beim Naziaufmarsch in Dresden sind Blockaden notwendig. Und auch im Betrieb ist Zivilcourage gefragt."
Ringo Bischoff, Bundesjugendsekretär von ver.di
"Im betrieblichen Alltag setze ich mich gegen Vorurteile unter Kolleginnen und Kollegen ein. Um Aufmärsche von Neonazis zu verhindern, setze ich mich auf die Straße."
Niklas Lanni, IG Metall-Vertrauensmann bei den Ford-Werken Köln
Solche Konflikte werden dann vor Arbeitsgerichten ausgetragen. Eine juristische Auseinandersetzung lohnt sich für Gewerkschaften immer dann, wenn es eine reale betriebliche und öffentliche Auseinandersetzung gibt, die von vielen Kolleg/-innen und einer solidarischen Öffentlichkeit getragen wird. Ziel ist, die Gesetze so zu nutzen und durchzusetzen, dass sie in unserem Sinne interpretiert und angewandt werden. Der hier häufig benutzte Begriff der "Grauzone" zeigt ja gerade, dass noch nicht entschieden ist, welche Seite Recht zugesprochen bekommt.
Für betriebliche Interessenvertreter/-innen und Gewerkschafter/-innen ist es daher legitim, darum zu kämpfen, Recht zu bekommen.